Was bleibt nach (fast) 3 Jahren Brasilien? Resümé

Nachdem ich in der ersten Woche wieder zurück in Deutschland ein wenig einen „Koller“ bekam, weil es mir hier zurück so verdammt gut gefällt und sich unser „Abenteuer“ Brasilien schon sofort wie Lichtjahre entfernt anfühlte, habe ich mir ein wenig mehr Gedanken darüber gemacht, was nach 2,5 Jahren in Brasilien und 0,5 Jahren Spanien so bleibt von den Auslandsaufenthalten.

  • Deutlich mehr Verständnis für Ausländer, die nur gebrochen die Landessprache des Landes sprechen, in dem sie leben. Wenn das Herz noch in der Heimat verblieben ist, kann das nichts werden. Und je nach Land, in welches man zieht, ist es manchmal wirklich schwer Kontakte zu den Inländern zu knüpfen.
  • Der tiefsitzende Wille, eine Zweiklassen-Gesellschaft wie in Brasilien hier nie entstehen zu lassen. (Ja ja, manchmal bin ich noch der Teenie, der meint, sie und ihre Freunde allein könnten die Welt retten…) Und der tiefsitzende Glaube, dass die brasilianische Gesellschaft an fehlender Auseinandersetzung, Durchmischung und Sichtbarkeit der Klassen miteinander krankt und der Ausweg vor allem durch gleiche Bildungschancen für alle samt Stipendium und Netzwerkaktionen für Unterschichtler heilbar wäre. Lulas „bolsa família“* finde ich auch den richtigen Hebel, damit die Kinder von der Straße in die Klassenzimmer kommen.
  • Schöne, wunderschöne, paradiesische Fotos von unseren Urlauben in Brasilien, diesem riesigen – 29-30 Mal so groß wie Deutschland und bedeckt fast die Hälfte des südamerikanischen Kontinentes – Land. Mehr bisher unveröffentlichte Fotos folgen bei urplötzlich auftretenden nächsten Zeitfitzeln.
  • In 2,5 Jahren in Sao Paulo standen der große Mann und ich bestimmt so viel im Stau wie bisher in unserem ganzen Leben nicht. Natürlich trifft das in noch viel stärkerem Maße auf den großen Mann zu, der schließlich 5 Tage die Woche zum Büro bzw. zu Klienten musste – immer schön zu den üblichen Rush hour Zeiten. Ich konnte es mir da schon besser aussuchen, wann ich mit dem Wagen auf die Straße bin. Außerdem ist man aus Sicherheitsgründen und Einfachheitsaspekten wirklich überall mit dem Auto hin gefahren. So habe ich den kleinen Mann immer schön zu Orten gefahren, an denen er sich austoben konnte (Spielplätze), aber ich selber habe mich nur wenig bewegt. Zumal ich seit Juni wirklich keinen Sport mehr machen konnte (Urlaub in Deutschland, Lungenentzündung, leichte Hepatitis A, Umzugsvorbereitungen, Bandscheibenvorfall, jetzt temporär alleinerziehend…). Jetzt wohnen wir hier mitten in einer größeren Stadt, alles in Laufnähe und gute Öffentliche plus Carsharing – und somit erst einmal glücklich eine zeitlang autofrei und froh über jede Bewegung und sei sie auch jetzt in der Kälte und mal im Regen. Mit kleinen Kindern zusammen in Gummistiefeln hält man es auch mal ganz gut im Regen aus. 🙂
  • Wie diese Woche bemerkt, begleitet mich aber ein wenig die Angst draußen, wenn auch zum Glück nur im Dunklen. Regelmäßige und schon länger dabeiseiende LeserInnen werden sich denken können warum. Die Unwissenden können sich ja mal auf die Suche in meinem Blog begeben. Mir hilft aber  das Annehmen der Angst. Dadurch werde ich nicht panisch. Ich denke, nach dem Erlebten ist es nur normal, eine zeitlang die Angst als Begleiter in bestimmten Situationen dabei zu haben. Ich setze mich mit ihr auseinander und lasse sie in gewissem Umfang zu. Mein mich schon lange tröstender Leitspruch durch´s Leben: „Nicht was wir erleben, sondern wie wir empfinden, was wir erleben, macht unser Schicksal aus.“ Marie von Ebner-Eschenbach
  • Die Zeit in Brasilien hat auf mich und meine Art der Kindererziehung stark abgefärbt. So ist es für mich selbstverständlich, dass ich den kleinen Mann dazu anhalte, Rücksicht auf kleinere und/oder andere Kinder auf dem Spielplatz zu nehmen, denen freundlich und offen zu begegnen, wenn sie auf ihn zu gehen. Das geht so weit, dass ich ihn „zwinge“ andere Kinder mitspielen zu lassen und seine Spielsachen mit ihnen zu teilen. Dabei sei direkt angemerkt, dass ich ihn gar nicht dazu zwingen muss, weil er es von Geburt an nicht anders gewöhnt ist. Manchmal muss ich ihn nur daran erinnern. 😉 Ehrlich gesagt, bin ich hier zurück ein wenig erschrocken über die Spielplatz-Benimmregeln… Die Eltern sind oft weit weg von ihren Kindern und bekommen so oftmals gar nicht mit, wie sich ihre Sprößlinge benehmen oder bekommen es sehr wohl mit und nehmen es aber als normal hin (Beispiel andere Kinder nicht mitspielen lassen, Sachen nicht zu teilen). Ich finde es schon komisch, Sachen auf einen öffentlichen Platz mitzunehmen und dann andere nicht damit spielen zu lassen. Also käme sowas bei uns vor, würde ich das Spielzeug eben nicht mehr mitnehmen als letzte Konsequenz.
  • Ich vermisse sehr die Geräuschkulisse der Tiere, die deutlich lauter ist als die hiesige. Allen voran die Kolibris (aber nicht wegen ihrer Lautstärke, sondern ihres Aussehens und ihrer Geschäftigkeit wegen), Papageie, Weißohrbüscheläffchen, ach überhaupt die ganzen Tiere da… Ok, vielleicht nicht unbedingt Grandona… 😉
  • Ein deutlich verbessertes Körpergefühl für den eigenen Körper. Wenn man soviel recht sommerlich bekleidet lebt, dann wird man quasi automatisch freier. Ich habe ein wenig Sorge, dass sich das jetzt mit dem einbrechenden Winter und den dazu gehörenden dicken Klamotten wieder verlieren könnte. Früher nämlich hier, da hatte ich mich immer gerade an eine Jahreszeit und die dazugehörige Kleidung gerade gewöhnt, da begann der nächste Jahresabschnitt. Nicht wenig zu meinem unguten Gefühl, was von Brasilien bleiben würde, trug auch dazu bei, dass ich direkt wieder erkältet war und damit quasi sofort mein bißchen normale Sao Paulo Winterbräune verloren hatte – den deutschen Winter über bin ich immer sehr blaß, ist einfach mein Hauttyp, da kann ich nichts gegen machen, dass ich dann manchmal wochenlang „krank“ aussehe… (Leider nichts „gesundes“ gegen…)
  • Saudade (Sehnsucht) überkommt mich bisher wenig zurück nach Brasilien. Aber ich habe die Befürchtung, der nächste Urlaub wird direkt ein wenig „anders“, normalere Umgebung naturell und so… und dann werde ich es wohl vermissen.
  • Ich fürchte aber, die Saudade kommt eher noch mit der Musik aus den Umzugskisten an…

8 Gedanken zu „Was bleibt nach (fast) 3 Jahren Brasilien? Resümé

  1. Wunderbar, dein Resümé 🙂
    Es ist schön, deine Erfahrungen zu lesen und auch, was dich in den drei Jahren verändert hat. Ganz toll. Ich wünsche dir, dass du davon lange zehren kannst und vieles einfach beibehalten kannst.

  2. Ja die Musik machts. Bei mir auch. Damals als ich meinen Mann kennengelernt habe, hat er mir eine Kassette mit seiner Lieblingsmusik (trovante) dagelassen, als er wieder aufbrach. Bis heute das schönste was ich je gehört habe… 😉
    Freut mich trotzdem, dass es Euch in Deutschland so gut geht, es wäre wirklich schwer, wenn es andersherum wäre.
    Wir hören jetzt übrigens die Möwen vor unserem Fenster und man riecht das Meer, das ist wunderbar!

  3. Sehr schön geschrieben ist das, wirklich!

    Ich zehre auch heute noch von Finnland und den Erfahrungen, die ich dort gemacht habe und ich wünsche Dir das wie meine Vorschreiberinnen hier natürlich auch.

  4. schön ausgedrückt. wir leben ja auch immer mit einem bein auf einem anderen kontinent, versuchen uns das beste beider kulturen anzueignen und dann sehnt man sich doch noch immer nach etwas fernem.

  5. Nach 4 Jahren Brasilien kann ich nur sagen,dass ich froh bin wieder in meiner Heimat Deutschland zu sein. –„Am deutschen Wesen mag die Welt genesen“ (Emanuel Geibel)

  6. Hm, ich sehe das ein wenig differenzierter, safadinho.
    Ich liebe hier meine Familie und meine Freunde, die Sicherheit und Verlässlichkeit, die hiesige Natur. In Brasilien liebe ich die Freunde dort und die Höflichkeit und Zuvorkommenheit der Brasilianer, die Natur, den Laissez-faire (ja ja, beißt sich mit den Vorlieben für Deutschland, ist aber so), die Früchte und das Essen.

  7. chrizzo…in einigen Punkten kann ich dir recht geben,was die Natur,Früchte und Essen und meine Familie betrifft,aber von Sicherheit und Verlässlichkeit habe ich in den Jahren meines Aufenthalts in Brasilien nichts gesehen,stattdessen nur Überheblichkeit,Verlogenheit und Lahmarschigkeit der Brasilianer.Aber im Gegensatz zu dir ist Laissez-faire auch nicht mein Ding.

  8. Oh, Sicherheit und Verlässlichkeit bezogen sich ganz allein auf meine Vorlieben für Deutschland! Da gebe ich Dir recht, daran mangelt es in Brasilien… Laissez-faire im Sinne von spontan und das Leben genießen – das mag ich, ja!

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